Hüte, Hüte, Hüte

Ein wenig suchen mussten wir schon, denn das Museum war kürzlich umgezogen. Ein altes Fabrikgebäude, das nach vielen Jahren sichtumhaften Dornröschenschlafes heute im neuen Glanz erstrahlt, beherbergt es. Der nostalgische Charme, mit modernen Bauelementen ergänzt und saniert, steht unübersehbar auf dem Musemusplatz, brückenschlagend von den Anfängen der Hutgeschichte Lindenbergs ins Jahr 2015. Wir befinden uns in der Eingangshalle eines Industriedenkmals, dem steinernen Zeuge der mit der industriellen Hutherstellung einhergehenden Betriebsamkeit. Bis zu 1200 Menschen arbeiteten hier im Takt der Werksirenen. Wir begeben uns auf die Reise in behütete Zeiten. Über eine 4,5 Meter breite und fast 14 Meter hohe, sich um eine weiße Säule schwingende Treppe zwischen dicken weiß getünchten Wänden gelangen wir ins Reich der Hüte. Eine angenehme ruhige, etwas dämmrige Atmosphäre hüllt uns ein. Wir haben die fast 1000 m², die die dreihunderjährige Hutgeschichte erzählen, für uns allein. Eine Haubenpresse fällt sofort auf. Das Ungetüm aus dem Jahre 1890 wiegt 1,5 Tonnen, ein Hebel daneben lädt zum Probieren ein. Ich hänge daran wie der sprichwörtliche Schluck Wasser und bekomme so eine kleine Ahnung von der Schwere der Arbeit. Die daneben stehende Tafel bescheinigt mir bestenfalls Laufburschenqualitäten. Das Zentrum bildet ein begehbarerer gläserner Kubus, der uns mit den Herstellungsabläufen der Hutherstellung vertraut macht. Großformatige Projektionen uralter Fotografien lassen die Arbeiterinnen und Arbeiter übermannshoch von den Wänden auf uns nieder schauen. Wir sind mittendrin, erkunden die Fertigung des Strohhutes, von seinen Anfängen an.
Der Mensch trägt Kopfbedeckungen, seit Anbeginn komplettieren sie die Bekleidung. Mützen, Hauben, Hüte, Kappen, sie alle waren einst als Schutz vor Sonne, Wind, Schmutz, Schnee und Regen oder auch zur Tarnung ersonnen. Sie gehören als Standes- oder Gruppenzugehörigkeitssymbol und /
oder als schützendes oder schmückendes Beiwerk zum Anzug. Der Erntehut ist allen Kulturen eigen, ein deutliches Symbol des Bauernstandes. Die Kenntnisse um das Flechten gehört zum traditionellen Wissen. Der Älteste 2005 in der Nähe von Landsberg am Lech gefundene Hut stammt aus der Jungsteinzeit und hat 5500 Jahre auf der Krempe. Er ist spitz, aus Bast, Leinen und Leder hergestellt. Auch Kokosblätter, Palmwedel, Gräser oder Stroh lassen sich bei entsprechender Behandlung flechten. Von grob bis filigran: Das Ausgangsmaterial bietet viele hundert Möglichkeiten. Eins haben sie alle gemeinsam: Sie werden aus dem gefertigt, was vor der Haustür wächst. Im Allgäu war es das Stroh des Weizens, der hier noch vor 180 Jahren als Nahrungsquelle angebaut wurde. Doch ist das Klima rau, die Böden karg, was eingebracht wurde, reichte oft nicht aus, alle hungrigen Mäuler zu stopfen. Die langen Winter im Allgäu und die damit verbundene kürzere Vegetationsperiode brachten sehr festes, steifes Stroh hervor, das nur für einfache Flechtarbeiten und Borten geeignet war. Die kühlen verregneten Sommer ließen manche Ernte auf dem Feld verfaulen. Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) und die damit verbundenen Zwangseinquartierungen der hungrigen Soldaten machten das Leben noch sehr viel beschwerlicher. Hunger und Not waren ständige Begleiter der leidgeprüften Bevölkerung. Schwedische Truppen drangen mehrfach bis weit ins Westallgäu vor. 1636 brannte Lindenberg bis auf fünf Häuser nieder.

Die Not klopfte allerorten an die Tore, doch macht sie auch erfinderisch. Mutig musste man sein, wollte man sich ein weiteres Zubrot verdienen. Die einzige Möglichkeit war der Pferdehandel. Schon im 17. Jhd. brachten die Männer Pferde über die schroffen Alpenpässe. Während kriegerischer Auseinandersetzungen war dies lebensgefährlich, denn die Vierbeiner konnten damals kriegsentscheidend sein. Aus dem Jahr 1617 ist ein Schriftstück erhalten, dass von drei Männern und 13 nach Mailand verbrachten Pferden berichtet. Die norddeutschen Tiere hatten, bis sie im Allgäu ankamen, einen langen Weg hinter sich. Nur über die Alpen mussten sie noch, um als Reit- und Kutschtiere an gut Betuchte gewinnbringend verkauft zu werden. Mit dem Erlös und dem Wissen der Südländer kamen die mutigen Männer zurück, manche erfolgreicher als andere. Die Daheimgebliebenen verwerteten nun alle überflüssigen Halme. Sie flochten sie, um daraus Hut auf Hut zu fertigen. Heimarbeit war in den schwierigen Zeiten allgegenwärtig. Die Erzeugnisse konnten verkauft werden, so ließ sich ein wenig Geld hinzuverdienen. Auch die Kinder halfen mit und mit den Jahren entwickelten sie eine schier unglaubliche Fertigkeit: Das Flechten konnte bis ins hohe Alter ausgeübt werden, jedes Familienmitglied half mit. Die Arbeit lief im Takt der Jahreszeiten. Man musste das Feld bestellen, ernten, reinigen, sortieren. Anschließend bleichen, später spalten, flechten, plätten, ggf. färben, bevor die Borten von Hand zusammengenäht werden konnten.
Eins der kleinen Geheimnisse, dass mit den Pferdehändlern über die Alpen kam, ist der Halmspalter. Mit diesem aus einem Tierknochen hergestellten Werkzeug lässt sich das Stroh der Länge nach in bis zu elf Elemte aufteilen. Daraus entstanden sehr viel filigranere Borten, das Endprodukt unterschied sich deutlich von den groben Arbeitshüten, es konnte entsprechend teurer verkauft werden. Weiterhin veränderte das Wissen um die Ernte und Bearbeitung des unreifen Kornes die Art der Hüte. Lindenberger Hüte waren bald von bester Qualität, die man vordem aus Italien kannte. Die Nachfrage stieg beständig an, das in der Not Ausgetüftelte wurde zum Hauptverdienst. 1755 erfolgte die Gründung der ersten Hut-Compagnie. Diese organisierte ab sofort die Herstellung und den Vertrieb, kaufte vermehrt Borten in Asien an, da der Bedarf mit heimischen Mitteln nicht mehr zu decken war. Zum Nähen gab man sie in die Heimarbeit ab.

Die ersten Hutfabriken öffneten um 1830 den Arbeiterstrom die Tore; bis 1900 gab es in Lindenberg und näherer Umgebung ca. 34 Strohhuthersteller, 14 davon waren Hutfabriken mit insgesamt 3000 Beschäftigten. In unserer Zeitreise sind wir nun beim Beginn der Lohnarbeit und der massenhaften Herstellung angekommen. Die stattliche Zahl der hergestellten Hüte lässt uns staunen: 1904 verließen vier Millionen Strohhüte pro Jahr diesen Standort.


Mit der Eisenbahn um 1900 und einem Zollamt sind bald Import- und Exporthandel möglich. Lindenberg wächst rasant an, 1914 darf es sich Stadt nennen, dessen Straßen schon 1893 elektrische beleuchtet wurden und in der 4500 Menschen wohnen. „Klein-Paris der Hutmoden“ nennt man sie, das Herrenstrohhutzentrum Deutschlands. Wir stauen über die Kunstfertigkeit der Strohhüte, nicht nur für die Herren. Ob arm, ob reich, wer es sich leisten konnte trug Einen oder Etwas. Seit dem 14. Jhd. gab es auch für das Huttragen Gesetzmäßigkeiten. Die Kleiderordnung regelte diese streng, die Mode bestimmte mit. Verstöße dagegen wurden strikt geahndet, denn an der Kopfbedeckung ließ sich vieles ablesen: regionale Herkunft, Stand in der Gesellschaft, Beruf, Einkommen, Altersgruppe, Familienstand‚ Gruppenzugehörigkeit oder auch Abgrenzungen. Vom Pfauenrädle, Knickzylindern und Jakobinerfarben erzählen die Exponate. Die Haube, das Kennzeichen der sittsamen, ehrbaren Gattin, war noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts Bestandteil der Frauengarderobe. Daher stammt auch der Begriff: „unter die Haube kommen“. Sprichwörtlich ist der Hut, wenn auch nicht mehr auf jedem Kopf, in aller Munde: z.B. „man versucht, alles unter einen Hut zu bringen“. Metaphern rund um den Hut finden sich in allen Sprachen. Im 18. Jahrhundert kam mit der Abschaffung der Kleiderordnung der Damenhut in Mode. Im Biedermeier glänzten die Damen mit dem Kiepenhut (Schute) – einer Mischung aus Hut und Haube, passend zum Kleid und hübsch verziert. Ihr Schnitt ließ Platz für das Haar, das in Nacken zu einem Knoten mit vom Brenneisen gelegten Locken aufgesteckt wurde. Doch war er auch mit einer breiten Krempe versehen, die Hören und Sehen beeinträchtigten, was ihm den spöttischen Volksnamen „Scheuklappen“ eintrug. Neben der Schute wurde auch Florentiner getragen, der heute immer noch beliebt ist. Die Herren trugen Schirm, Charme und Melone, davor Zylinder, der ab dem Ende des 19. Jhd. nur noch zu gesellschaftlichen Anlässen getragen wird.


Die industrielle Revolution lässt die Heimarbeit schwinden, Ausbildungsberufe wie den der Putzmacherin, später Modistin entstehen. Überhaupt arbeiten in einer Hutfabrik sehr viele Berufsgruppen zusammen. Fein säuberlich geführte Hefte sind zu bestaunen, seltsam geformte Werkzeuge, Nähmaschinen. Wir bewundern eine Kopfausstoß- und eine Randstreckmaschine, die ist für die Krempen, außerdem Stumpenweiter zum Dehnen. Unzählige Formen künden vom jeweiligen modischen Zeitgeist. Jeder Hut beginnt mit einer exakten Form, erst aus weichem Lindenholz, darauf kann der Hutrohling auch festgesteckt werden, später aus Metall. Auf der einen Seite standen die Arbeiter, für bescheidenen Lohn schufteten, auf der anderen das zu Wohlstand kommende Bürgertum, das seine Damen wie Blumen aufputzte. Man soll und will gesehen werden. Der Reifrock wird bald von der Tournüre abgelöst, trägt neben Hut auch Schirm und Handschuhe, passend zueinander, alles gigantisch ausstraffiert. Dazu wurden die Federn von abertausenden Vögeln in schwindel- und ekelerregender Menge verheizt. 1913 sollen offiziell 16691 Paradiesvögel in den Export für die Dekadenz gegangen sein, inoffiziell vermutet man um die 80000 Tiere. Auch Papageien, Kolibris, Königsfasanen und die Strauße mussten für die Mode ihr Leben lassen. Natur- und Artenschutz, wie er für uns heute selbstverständlich ist bzw. sein sollte, gab es damals noch nicht. Pelze sind nach wie vor leider immer noch in Mode. Es wurde produziert, was das Zeug hielt: im Jahre 1913 acht Millionen Stück, fünf Millionen davon waren Herrenhüte. Eine besondere Hutform ist der Matelot, der in Lindenberg für die kaiserlichen Matrosen angefertigt wurde. Die des Kaiser Wilhelm II. trug stets den aus Stroh gefertigten Matrosenhut, mit einem goldfarbenen „Hohenzollern"-Schriftzug besticktem Band. Die Mode der Matrosen wurde durch des Kaisers Vorliebe für die See „chic“, dazugehörige Hüte trug und sah man bald auf allen Köpfen.


Der Hut macht vor den Bediensteten von Staat und Kirch nicht halt, doch sind ihre Ausarbeitungen nicht so starken modischen Strömungen unterworfen. Auch davon erzählt die Ausstellung ausführlich. Die Pickelhaube, getragen beim preußischen Militär und der bayerischen Polizei ist das Sinnbild für preußisch-deutschen Militarismus. Der Krieg fegte schließlich angestaubte Konventionen weg, eine neue, starke Frau erschien auf der Weltenbühne. Eine mit Bubikopf und Glimmstängel an eleganten Haltern. Die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg stürzte die Hutherstellung in eine schwere Krise. Um 1924 kam der Strohhut langsam aus der Mode, 1926 erreichte die Krise ihren Höhepunkt. In den folgenden Jahren setzte man auf Damenhüten und auf die Verwendung neuer Materialien. Ab 1928 trug man schlichte Topf- und Glockenhüte aus Filz und auch Modelle aus Stroh. Auf die mageren Jahre folgte eine Zeit des Wachstums, der Stabilität, der Feminität, trug Eleganz, betonte Grazien.

Der Zweite Weltkrieg brachte Rationierungen und die Stilllegung der Produktion bis zum Kriegsende. Doch trugen die Damen immer noch Hut, schon wegen der fehlenden Möglichkeiten der Haarwäsche – Hut kaschiert und schützt vor Staub. Nach dem Krieg hieß es: Anpacken, aufbauen. Es die Frauen, die ihren Mann standen, z. B. als Trümmerfrauen, allein auf sich gestellt. In all dem Elend wollte man aber auch ein wenig hübsch aussehen, Ideen waren gefragt, aus alt mach neu. So kam es nach 1945 erneut zu einem Aufschwung, die Nachfrage nach Filzhüten stieg schnell an. Diese werden aus Tierhaaren gefertigt. Aus Schafswolle, Kaninchen-, Hase- oder Biberfellen, auch Antilopen entstehen mit Hitze, Dampf und Druck Filze unterschiedlichster Güteklassen. 70 Arbeitsschritte sind nötig, bis der Filzhut fertig ist: walken, bleichen, färben, dehnen, die Kopfform ausstoßen und den Rand strecken, über aufrauen, bürsten, glätten, in Form ziehen, bügeln oder pressen, Hutschnur anlegen und Vertiefung eindrücken. Mit Gewichten beschwert trocknet der Hut schließlich, dann werden die Ränder beschnitten, umgenäht. Ein Innenfutter aus Atlasseide, Taft oder Satin, Schweißbänder aus feinem Leder im Herrenhut, Stempel und Hutschachtel komplettieren es zu einem Accessoires, das den Extravaganzen wie schon in den behüteten vergangenen Jahrhunderten kaum Grenzen bietet. Die individuelle Dekoration macht die die Kopfbedeckung zu etwas Besonderen. Das liegt nicht allein an den Schleifen, von denen die Modistinnen 50 verschiedene binden können.

Die 50er brachten den Dior-Look, man trug Kostüm. Schließlich setzte sich die hutlose Mode durch. Hut zu tragen galt unter den Damen als altmodisch, nicht emanzipiert, ein alter Hut eben. Für die Herren gab es nach einer kurzen opulenten Phase bis in die 60er Jahre bald schlichtere Modelle. Sie fungierten immer noch als Signalgeber. „Hutziehen" bei der Begrüßung gehörte einfach zum O-Ton und zur Garderobe. Mit einem schönen Hut ist der Herr komplett, eine Dame wie ich finde übrigens auch. Mit den 1960er Jahren begann der Niedergang der Hutfabrikationen, denn der Hut hatte an Bedeutung verloren. Heute trägt ein jeder was er mag. Zur Tracht gehört es dazu, „des ma a Huat trogt“. Wenn der Adel heiratet, Hollywood oder Cannes die roten Teppiche ausrollen, bei den gesellschaftlichen Ereignissen der Reichen und Schönen, verziert so manche Kreation das Haupt, das nicht nur Beifall findet, sondern auch beißenden Spott erntet.


Lindenberg und seine Hüte gehören untrennbar zusammen, auch ein Hutmuseum gehört dazu. Doch brauchte es viele Anläufe, bis Lindenberg sich 1981 damit schmücken durfte. Wir sind nun am Ende unserer huthaften Reise angekommen, haben viel erfahren, sind geradezu erschlagen von der Fülle der Informationen, den Fähig- und Fertigkeiten der Menschen und ihrem festen Willen zum (Über)Leben. Es gibt noch so viel mehr zu bewundern und zu entdecken. Falls Du einmal im Allgäu bist, bin ich mir sicher: auch du staunst ehrfürchtig im Deutschen Hutmuseum zu Lindenberg.



Fotos & Informationen mit freundlicher Genehmigung vom Deutschen Hutmuseum, Text: Heidi Thaler